Das barmherzige Fallbeil

Die europäische Krimi-Königin ist zurück!

Adamsberg ist zurück, und seine Ermittlungen führen ihn in die blutige Zeit der Französischen Revolution und in die tödliche Kälte Islands ...

Brillant, unvergleichlich, preisgekrönt ...


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Das barmherzige Fallbeil

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Nur noch zwanzig Meter, zwanzig kleine Meter bis zum Briefkasten, sie hatte es sich leichter vorgestellt. Blödsinn, sagte sie sich, es gibt keine kleinen oder großen Meter. Meter ist Meter, Punkt, aus. Seltsam, dass man an der Schwelle des Todes, an diesem unvergleichlichen Ort, noch immer über solche Belanglosigkeiten nachsinnt, während man doch eher annehmen würde, dass man irgendeinen bedeutenden Satz spricht, der sich mit glühendem Eisen in die Annalen der menschlichen Weisheit einbrennen wird. Einen Satz, der später einmal hier und da kolportiert werden wird: »Wissen Sie, was Alice Gauthiers letzte Worte waren?«

Wenn sie auch nichts Denkwürdiges zu erklären hatte, so trug sie doch eine schwerwiegende Botschaft in der Hand, die sich in die Annalen der menschlichen Schande einbrennen würde, welche ja sehr viel umfangreicher waren als die der Weisheit. Sie sah auf den Brief, der in ihrer Hand zitterte.

Also weiter, noch sechzehn kleine Meter. Noémie beobachtete sie von der Haustür aus, bereit, beim geringsten Schwanken hinter ihr herzustürzen. Noémie hatte alles versucht, ihre Patientin davon abzuhalten, dass sie sich allein auf die Straße wagte, aber Alice Gauthiers gebieterisches Wesen duldete keinen Widerspruch.

»Damit Sie mir über die Schulter schauen, um die Adresse zu lesen?«

Noémie war beleidigt, so etwas tat sie nicht.

»Das machen alle, Noémie. Einer meiner Freunde – ein alter Gauner im Übrigen – sagte immer zu mir: ›Wenn du ein Geheimnis wahren willst, dann wahre es.‹ Und so habe ich eins über lange Zeit gewahrt, nur in den Himmel komme ich damit nicht. Wobei mir der Himmel auch sonst nicht sicher wäre. Verkrümeln Sie sich, Noémie, und lassen Sie mich gehen.«


Lauf, Alice, verdammt noch mal, sonst hast du Noémie gleich wieder auf der Pelle. Sie stützte sich auf ihren Rollator, schob sich neun Meter weiter, nun ja, acht große Meter waren es auf jeden Fall. Jetzt nur noch an der Apotheke vorbei, danach am Waschsalon, an der Bank, und schon wäre sie dort, bei dem kleinen gelben Briefkasten.

Während sie bei dem Gedanken an ihren nahen Sieg schon leise lächelte, wurde ihr schwarz vor Augen, sie ließ das Gefährt los und brach vor einer Frau in Rot zusammen, die sie mit einem Schrei in ihren Armen auffing. Der Inhalt ihrer Tasche verteilte sich über den Boden, der Brief glitt ihr aus der Hand.

Die Apothekerin kam angerannt, fragte, befühlte, legte große Geschäftigkeit an den Tag, während die Frau im roten Mantel die verstreut herumliegenden Dinge aufsammelte, in die Handtasche zurücklegte und diese neben die auf dem Boden liegende Frau stellte. Damit erschöpfte sich ihre flüchtige Rolle auch schon, der Rettungsdienst war unterwegs, sie hatte hier nichts mehr zu tun, zögernd richtete sie sich auf und trat zurück. Könnte sie sich nicht doch noch irgendwie nützlich machen, um noch ein wenig länger am Unfallort zu bleiben, könnte einer der Feuerwehrleute, die jetzt in großer Zahl eintrafen, nicht wenigstens ihren Namen notieren? Aber die Apothekerin hatte bereits alles in die Hand genommen, assistiert von einer furchtbar aufgeregten Frau, die erklärte, die Krankenpflegerin zu sein: Sie weinte ein wenig und rief, Madame habe es strikt abgelehnt, sich von ihr begleiten zu lassen, sie wohne nur einen Steinwurf entfernt, in der 33 a, nein, sie habe wirklich nicht fahrlässig gehandelt. Man legte die Frau auf eine Trage. Das war’s, Kindchen, die Sache geht dich nun nichts mehr an.

Fred Vargas

Fred Vargas

Fred Vargas, geboren 1957, ist ausgebildete Archäologin und hat Geschichte studiert. Sie interessierte sich anfänglich für die Frühgeschichte, bis sie ihre Leidenschaft für das Mittelalter entdeckte. Fred Vargas ist heute die bedeutendste

französische Kriminalautorin mit internationalem Renommee. 2004 erhielt sie für Fliehe weit und schnell den Deutschen Krimipreis, 2012 den Europäischen Krimipreis für ihr Gesamtwerk.

6 Fragen an FRED VARGAS

Wie sind Sie auf die Idee zu Ihrem neuen Roman gekommen?

Zu meiner eigenen Überraschung und auf die Gefahr hin, dämlich zu erscheinen, sind es die Ideen, die mich finden. Und ich kann Ihnen versichern, dass diese Tatsache das Einschlafen nicht erleichtert. Abends im Bett sehe ich ganze Szenen vor meinem inneren Auge, ich höre Dialoge. Manchmal fliegen sie gleich davon, manchmal halten sie sich fest. Bei Das barmherzige Fallbeil haben sich zwei Bilder festgekrallt: einerseits ein Drama in Island, wo ich noch nie war, und anderseits die Lust, einen Nachfahren der Pariser Henkersfamilie Sanson als Figur zu nutzen. Ein verstörter Kerl, dessen Urahnen sowohl Ludwig XVI. und Marie-Antoinette als auch die Revolutionsväter hingerichtet haben.

Aber Ihre Muse hat Sie ausgetrickst, und Robespierre hat die Rolle des armen Sansons eingenommen …

So ist es! Er tauchte auf und sagte mir: »Du wirst über mich schreiben!« Aber ich wollte nicht. Wie sollte ich Island und Robespierre in einem Roman zusammenführen? Dann gelang es mir doch. Man muss auch zugeben, dass ich Robespierre seit der Kindheit kenne. Mein Vater gehörte zu den Surrealisten, und diese historische Figur hat diese Kunstbewegung sehr beschäftigt. Es ist sogar überraschend, dass er sich nicht früher Zugang zu meinen Büchern verschafft hat.

Warum bleiben Sie immer denselben Figuren treu?

Für einen Autor ist es interessant, eine Figur weiterzuführen, ohne sich zu wiederholen – und ohne potenzielle neue Leser unterwegs zu verlieren. Ich habe mir einen Satz von Jean Renoir gemerkt, der mir entspricht: »Ein Regisseur macht nur einen Film in seinem Leben. Dann zerbricht er ihn in Einzelstücke. Und setzt ihn dann wieder zusammen.«

Welcher Ihrer Figuren fühlen Sie sich am nächsten?

Eigentlich erkenne ich mich in keiner meiner Figuren wieder. Mit Jean-Baptiste Adamsberg habe ich sozusagen einen spiegelverkehrten Doppelgänger geschaffen. Er ist nicht unmenschlich, aber alles prallt an ihm ab. Er ist eine unbekümmerte Figur. Ich bin das absolute Gegenteil davon. Bevor ich einen Film gucke, überprüfe ich, ob er ab zehn oder zwölf Jahren zugelassen ist – ich kann Gewalt nicht ertragen. Aber zu Adamsbergs Stellvertreter, Adrien Danglard, hat mich wahrscheinlich mein Vater inspiriert.

Schreiben Sie nach wie vor mehrere Fassungen ein und desselben Romans?

Die erste Fassung, bei der ich mich nur um die Geschichte und die Zeitabläufe kümmere, geht ziemlich schnell. Dann ändere ich den Ton. Und kein Satz der ersten Fassung überlebt bis zum Schluss. Ab der fünften Version gebe ich meiner Schwester den Text zum Gegenlesen. Beim letzten Durchgang (manchmal ist es der zehnte), der wie beim Kochen minutiös durchgesiebt wird, setzen wir uns acht bis neun Stunden lang zusammen, legen jede Redewendung auf die Waagschale und verhandeln Seite um Seite über jedes Wort.

Leiden Sie unter Babyblues, wenn Sie Ihr Manuskript abgegeben haben?

Nein, nie. Von dem Moment an, da ich den Schlusspunkt ans Ende der ersten Fassung gesetzt habe, bin ich glücklich und erleichtert, auch wenn ich weiß, dass noch viele Monate Arbeit vor mir liegen. Nein, das, was ich nicht mag, ist, wenn ich meinem Verlag mein neues Buch abgegeben habe und nicht weiß, was danach kommen soll. Es ist, als wäre ich plötzlich arbeitslos.